TEZENTAO - KUNGFU

Hachiro Wada
Hachiro Wada

 

 

 

SIFU

CHINESISCHE TRADITION

 

 

 

Inhaltsangabe

  1. Einleitung
  2. Respekt
  3. Chinesisches Familienmodell
  4. Historischer Rückblick
  5. Lernen zu lernen
  6. Sifu, Lehrer-Vater
  7. KungFu- Familie
  8. Sifu - Wissen und Vermittlung
  9. Wude - Moral des Kriegers
  10. Westlicher Weg des Kriegers
  11. Resümee

 

 

 

1. Einleitung

 

Um einem möglichem Missverständnis vorzubeugen: Diese Abhandlung ist nicht als ein Mittel gedacht, um einem anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen, oder ihm einen Schaden zuzufügen. Es geht um das Gegenteil. Aber in der Regel prüft man seine Annahmen nicht. Der gewöhnliche Mensch will so bleiben wie er ist: in Ruhe gelassen werden. Für ihn ist dieser Exkurs nicht hilfreich. Es geht hier also weder um eine Empfehlung für eine "gewaltsame Gehirnwäsche", z.B.  für rebellische Leute die Schwierigkeiten haben sich einer "Ordnung" unterzuordnen,  noch um einen Aufruf für Sicherheitsfanatiker die sich "blind und ungeprüft" einer äußeren, oder inneren Autorität unterwerfen wollen, um sich "endgültig sicher zu fühlen". Mögen sich diejenigen finden, die sich von diesem Text angesprochen fühlen.

 

 

Die Achtung und Wertschätzung (Verehrung) des Lehrers ist im KungFu ein zentraler Aspekt der Lehrmethode und der chinesischen Kampfkunst. Ein ernsthafter Schüler ist traditionell zur Demonstration von Respekt und Wertschätzung gegenüber seinem Lehrer verpflichtet.

Das ist uns fremd. Unser heutiges Verständnis  einer Beziehung von Lehrer und Schüler betont eine kumpelhafte Umgangsform. Vielleicht basiert diese Haltung auf der Einschätzung, dass man heutzutage als Schüler, nur Informationen von einem Lehrer braucht. Die normale Schule ist wichtig, aber nur, um die beruflichen Voraussetzungen zum Broterwerb zu schaffen.

Eine echte Kungfu-Schule, fördert die Entwicklung der inneren Kraft, die Selbst-Erkenntnis und dadurch die Spiritualität des Menschen. Die Selbst-Disziplin dient somit der Vervollkommnung und erst dadurch wird eine ganzheitliche Lebensgestaltung möglich.

 

 

Etwas kennen 

heißt noch lange nicht, 

es auch zu können.

 

Die Fähigkeit etwas zu kennen, ist somit der Fähigkeit etwas zu können untergeordnet. Die Anerkennung eines professionellen Könnens ist das Mindeste was ein Schüler seinem Lehrer schuldet.

 

 

Das normale Denken, Intellektualität, ist heute in der "offenen Gesellschaft", konditioniert, nivelliert und damit degeneriert. Wir werden zu "Spezialisten" getrimmt, so entsteht "Scheuklappen-Denken", Denkfaulheit, Ignoranz und Arroganz. Ein neues ganzheitliches Denken ist uns fremd. 

"Denken

muss man erst einmal können!" 

SALVADOR SALPIETRO

 

 

Jede Disziplin, die Grenzen setzt, einer Linie folgt, die gegen den eigenen Strich geht, oder eine als einengend empfundene Struktur aufweist, wird von uns als eine Bedrohung unseres gemästeten Egos empfunden und in der Regel abgelehnt. Grundlage ist eine falsche  Einstellung und Haltung zur Freiheit, die darauf besteht „zu machen, was man will“. Der Irrtum besteht darin, dass man sich gegen jede Form der Unterordnung wehren müsse, um frei zu sein. Auch ist es ein Missverständnis  Unterwerfung und Unterordnung gleichzusetzen. Außerdem bemerkt man nicht, dass man sich schon längst dem Egoismus unterworfen hat. Z.B.: Der ewige "Rebell", bei all seinen Kämpfen gegen die "äußere Tyrannei", bemerkt der noch nicht einmal die Diktatur seines eigenen Tyrannen, des kranken Ego.

Entwickelt sich deshalb kein Verständnis für eine notwendige Ordnung, wie sie z.B. im Kosmos herrscht?  Und dem zu Folge, auch nicht die notwendige Unterordnung unter die Gesetze des Lebens? Stattdessen ist heutzutage die Rebellion gegen jede Ordnung populär. Eigenwille, Eigensinn und Egoismus werden in einer amoralischen Gesellschaft als wertvoll erachtet. Aber ein Sturm im Wasserglas hat noch nie das Wetter verändert.

 


 

Im weiteren Verlauf gehen wir auf die traditionellen Wurzeln des Verständnis von der Beziehung zwischen Lehrer-Schüler ein, um den archaischen Kern zu beleuchten. Es geht nicht um die Wiederbelebung eines Relikts aus der Vergangenheit, der Installation einer  überkommenen, veralteten Sitte, sondern darum, wie wir uns der Kampfkunst KungFu angemessen nähern können.

 

 

 

2. Respekt

 

In den chinesischen Schulen für Kampfkunst wird Wert darauf gelegt, dass der Respekt des Schülers gegenüber seinem Lehrer wie folgt ausgedrückt wird:

  1. Der Lehrer darf im Unterricht niemals nur mit seinem Namen angesprochen werden. Korrekt ist, je nach Schultradition, Sifu oder Laotze (auch Shifu und Laoshi geschrieben, auf japanisch Roshi). Sifu bedeutet „Lehrer- Vater“, während Laotze „Alter Lehrer“ bedeutet.
  2. Für den Schüler (Dizi) ist es verboten, den Lehrer während des Unterrichts kameradschaftlich zu berühren, zu umarmen, zu necken usw. Einige Lehrer erlauben derartige Intimitäten auch nicht nach dem Unterricht, um nicht die Grenzen der Hierarchie zu verwischen. 
  3. Lädt der Lehrer einen Schüler zu sich nach Hause ein, ist es grundsätzlich üblich ein Geschenk, z.B. eine gute Flasche Wein, Whisky... mit zu bringen. 
  4. In der Nähe des Lehrers soll der Schüler gerade und aufrecht stehen, nicht seine Arme in die Seiten stemmen, sie nicht vor der Brust verschränken, nicht die Hände in den Hosentaschen halten, nicht auf dem Boden sitzen oder liegen, generell es sich nicht bequem machen, oder sich gehen lassen z.B. auf einer Bank oder Sessel zu loungieren. 
  5. Bei einer Unterweisung oder Demonstration durch den Lehrer nicht zuzuhören, die Augen zu schließen, wegzuschauen, nach der Uhr zu schauen, unaufgefordert Kommentare abzugeben, gilt als hochgradig unangemessen.
  6. Ein Schüler sollte niemals zu spät zum Unterricht erscheinen, denn dies deutet darauf hin, dass der Schüler, die Lehre des Lehrers, die als unbezahlbares Geschenk gilt, nicht wertzuschätzen weiß. Der Schüler ist verpflichtet  auf den Lehrer zu  warten, falls dieser später zum Unterricht erscheint. In der Tradition haben viele Lehrer ihre Schüler warten lassen, um festzustellen, wer Geduld und Respekt demonstriert.
  7. Der Unterricht sollte vom Schüler nicht vorzeitig abgebrochen werden. Die Unterrichtshalle (Guan, jap. Dojo „Heilige Halle des Weges“) sollte er nicht vor dem Lehrer verlassen. Traditionell kommt der Lehrer als Letzter und geht als Erster.
  8. Will ein Schüler Jemanden zum Unterricht mitbringen, oder zu einer gesellschaftlichen Zusammenkunft mit dem Lehrer, so bittet er ihn vorher um Erlaubnis. 
  9. Bei gesellschaftlichen Anlässen sitzen die Schüler niemals, wenn der Lehrer steht, es sei denn, er fordert sie dazu auf. Dem Lehrer wird immer der beste Platz zum Sitzen angeboten. Man beginnt niemals mit dem Essen und Trinken, bevor der Lehrer isst und trinkt. Überreicht man einen Gegenstand dem Lehrer, in China überreicht man mit beiden Händen, dann ist man ganz bei der Sache. 
  10. Unangebracht ist folgendes Schülerverhalten gegenüber dem Lehrer: in irgendeiner Weise frech, provokant, besserwisserisch, oder sonst wie unverschämt, anmaßend zu reagieren. Der Gipfel der Unverfrorenheit ist es, bei einer Unterweisung oder Erklärung des Lehrers, ihn zu unterbrechen, dazwischen zu reden, oder als Schüler von sich zu geben, dass man dies bereits wüsste, auch wenn das der Wahrheit entspricht. 
  11. Niemals, es wird betont niemals, sollte sich der Schüler dazu hinreißen lassen, sich anzumaßen, dem Lehrer vorzuschlagen oder gar vorzuschreiben, was oder wie er zu unterrichten hätte. Eine solche Einstellung und Haltung unterstellt dem Lehrer, dass er nicht wüsste, was zu tun sei. Das ist völlig indiskutabel.
  12. Aus einem verstocktem Herzen heraus, dem Lehrer gegenüber sich im Recht zu empfinden und sich dann zu versteifen, sich unempfindlich, verhärtet, unbelehrbar zeigen ist ebenso indiskutabel.
  13. Durch das folgende Benehmen, dabei ist es gleich ob laut oder leise, des Schülers dem Lehrer gegenüber, disqualifiziert  sich der Schüler: er tritt rechthaberisch pochend, bockig, trotzig, widerspenstig, aufsässig und ungehorsam auf. Dieses Verhalten zeigt dem Lehrer, dass sich der Schüler selbst für wichtiger nimmt als ihn und die Lehre. Sollte der Schüler sein Fehlverhalten nicht einsehen und ändern,  ist das Verhältnis Meister-Schüler gestört und eine weitere Zusammenarbeit so unmöglich.
  14. Drei wesentliche Qualitäten eines KungFu- Übenden, die den Respekt gegenüber dem Lehrer demonstrieren  sind: 
  • das Streben zu lernen, 
  • die Hingabe zur Übung,
  • die Disziplin beim Training. 

Dies zeigt dem Lehrer, dass sich der Schüler als würdig erweist, in der Kunst KungFu unterrichtet zu werden.

 

 

3. Chinesisches Familienmodell

 

Ohne Verständnis der Struktur der chinesischen Familie, kann man die übliche Lehrer-/Meisterverehrung nicht verstehen. Das Ideal der Familie besteht nach dem Konzept von Konfuzius auf einem hierarchischen Modell. Die Lehre von Konfuzius (551-479 v. Chr.) prägt auch heute noch die chinesische Kultur. Das Konzept geht vom Patriarchat aus, d.h. mit der herausragenden Stellung des Vaters als Sippenoberhaupt. Dieses Familienmodell - als Abbild einer höheren Ordnung, als Bild der Beziehung zwischen Himmel und Erde - war die Grundvoraussetzung chinesischen Denkens.

 

 

Der Vater (Fu) steht an der Spitze der Hierarchie. Etwas darunter steht ihm zur Seite die Mutter (Mu). Die Kinder (Xiaohai) sind ihren Eltern zu großem Dank verpflichtet, weil ihnen die Eltern das unbezahlbare Geschenk des Lebens gemacht haben. Sie bleiben deshalb für immer gegenüber ihren Eltern in der Schuld. Pietät, lt. Duden, Herkunftswörterbuch, bedeutet: „Frömmigkeit; Ehrfurcht; Rücksichtnahme; Pflichtgefühl; Gottesfurcht. Pflichtgemäß handeln, fromm und rechtschaffen sein. Im 17. Jahrhundert war der Pietismus eine religiöse Erweckungsbewegung innerhalb des Protestantismus, die den lebendigen Glauben und die Frömmigkeit des einzelnen Christen in den Mittelpunkt stellte.

 

 

Aber zurück zu Konfuzius, für ihn  galt die „kindliche Pietät“ (Xiao) als Kardinaltugend Er verstand Pietät, als ein auf sittliches Empfinden und auf Verehrung beruhendes Pflichtgefühl. Es sollte sich im Verhalten der Kinder gegenüber ihren Eltern und den Alten der Familie in Respekt und Dienstbereitschaft ausdrücken. Neben dem Aspekt der Fürsorge ging es vor allem aber um die Achtung vor ihnen und ihrer Wertschätzung. Dabei spielte die Folgsamkeit, der Gehorsam, die absolut bedingungslose Unterwerfung unter den befehlenden Willen des Vaters eine bedeutsame Rolle. Tötete ein Vater sein Kind, weil es ungehorsam war, ging er häufig straffrei aus. Umgekehrt gehörte Gewalt gegen die Eltern oder gar Elternmord zu den schlimmsten denkbaren Verbrechen überhaupt. Interessanter Weise ist das Wort „gehorsam“ vom lat. obediens abgeleitet, lt.Duden, Herkunftswörterbuch; denn für die Germanen war der christliche Obedienzbegriff völlig unbekannt. Das Adjektiv gehorsam gehört zu dem unter hören behandelten Verb.

 

 

 

 

4. Historischer Rückblick

 

Konfuzius lebte zu einer Zeit, die durch starke Erschütterungen der Gesellschaft geprägt war. Sein Streben galt der Stabilisierung der Verhältnisse auf der Grundlage einer fest gefügten Ordnung: Die Familie als kleinstes Subsystem des Staates, Modell der kosmischen Hierarchie und elementarer Grundbaustein der Gesellschaft. Funktionierte die Grundeinheit „Familie“ nicht, dann konnte auch die Gesellschaft nicht gesund sein. Die Etablierung einer geordneten Gesellschaft setzt die geordnete Familie voraus. Familiäre Ordnung bedeutete Unterordnung aller Familienmitglieder unter strenge Regeln gegenseitiger Verpflichtungen. Ordnung im Staat hielt er nur dann für erreichbar, wenn sich der Einzelne selbst beschränkte, seinen Neigungen nicht hemmungslos nachgab, sondern sie den Interessen der Gemeinschaft unterordnete.

 

 

In dem konfuzianischen „Beziehungskatalog“ (Wulun) wurden alle elementaren zwischen-menschlichen Beziehungsvarianten aufgeschlüsselt und die jeweils gültigen Verhaltensregeln festgeschrieben. Wulun bedeutet die „Fünf Beziehungen" zwischen:

Fürst und Untertan,

Mann und Frau,

Alt und Jung

sowie unter Freunden.

Dieses Konzept erklärt, weshalb auch unter den Kindern der traditionellen Familie eine Hierarchie herrscht, die genau regelt, wer sich wem gegenüber wie zu verhalten hat: an der Spitze steht der jeweils ältere Bruder (Xiong) bzw. die ältere Schwester (Jie), die von dem jüngeren Bruder (Di) bzw. der jüngeren Schwester (Mei) entsprechende Demonstrationen des Respekts erwarten dürfen.

 


 

Der Respekt gründet also nicht direkt auf der Wertschätzung bestimmter Leistungen oder Qualitäten. Ein Sohn schuldet dem Vater Respekt, weil dieser sein Vater ist. Auch ein schlechter Vater ist und bleibt Führungsfigur der Familie, und dies allein begründet bereits die Forderung nach Unterwerfung, Respekt und Fürsorge. Aber es gibt eine Einschränkung bei Konfuzius: Die Verpflichtung zum Respekt gegenüber Hierarchiehöheren ist eingeschränkt, denn das Befolgen von Befehlen eines amoralischen Herrschers ist nicht tugendhaft. Die Realität  der Umsetzung dieses Konzeptes durch staatliche Institutionen sah aber oft anders aus. Konfuzius bestand darauf, 

dass die Hierarchieoberen, ihrer Stellung entsprechend,

danach streben mussten, sich selbst zu vervollkommnen,

um hohe moralische Werte vorzuleben.

 

Auf die Struktur der Familie übertragen heißt das: auch und gerade ein Familien-oberhaupt muss sich dieser Pflicht unterwerfen, er durfte nicht tyrannisch nach Gutdünken walten, sondern musste sich seiner Rolle als würdig erweisen. Ein kleiner Abstecher zu Meister Eckardt, der in diesem Kontext gesagt hat:

„Der Mann soll Gott dienen

und die Frau dem Mann.“

 

 

5. Lernen zu lernen

 

Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass unser Verständnis vom Lernen, zunehmend auf Informationsaufnahme beschränkt ist und dabei die erzieherische Seite auf optimale äußere Wissensvermittlung reduziert wird. Die traditionelle Bedeutung des Lernens, des Studiums, des Forschens ist direkt mit der Lehrer-/Meisterverehrung verbunden. Gemäß der traditionellen Vorstellung geht es bei diesem Lernen nicht um die Konditionierung von bestimmten mechanischen Gewohnheiten, z.B. für das Berufsleben, die somit teilweise ihre Existenzberechtigung haben, sondern dieses Lernen diente als Disziplin zur Förderung des Prozesses der Höherentwicklung, der Selbstkultivierung - Meisterung des Ich- , der Persönlichkeitsveredelung und dazu bedarf es eines kompetenten und unbestechlichen Lehrers. Bei Konfuzius besitzt das Studieren (Xue) einen höheren Stellenwert als das Denken (Si):

 

„Lernen ohne zu denken

ist sinnlos, 

aber Denken ohne zu lernen

ist gefährlich.“

 

Oder wir zitieren noch einmal den KungFu- Meister Salvador Salpietro:

„Denken

musst Du erst einmal

können.“

 

Dahinter verbirgt sich die Einschätzung, dass dem freien, ungehemmten Denken - ziellos, ohne Linie – ein amoralisches und anarchistisches Potential innewohnt. Man kann dies an den zerstörerischen Auswirkungen der heutzutage postulierten Priorität des Denkens (Intellekts) in allen Lebensbereichen sehen. Dagegen weist das Lernen, Studieren und Forschen, z.B. von den Vorfahren, immer einen deutlichen Bezug zu den Werten der Tradition auf. Das Studium sah Konfuzius als Weg zur Vorbereitung der Erkenntnis und damit zur Moralität. Dieses Lernen als Disziplin galt als eine bewährte Methode, um aus dem schwachen, kleinen, egoistischen Menschen, „Kleiner Mensch“ (Xiao Ren) den „Edlen“ (Junzi) zu formen.

 

 

In den Schulen des Taoismus und Buddhismus, (ähnlich im Sufismus und in einigen urchristliche Schulen der „Wiederholung oder Erinnerung“)  sah man das Studium als Vorbereitung zum Weg zur Vervollkommnung an, obwohl die konfuzianischen Schulen andere Verfahren anwandten. Auf jedem Fall, aber musste der Schüler einen „Weg des Lernens gehen, der oft am Anfang ein „Weg des Ver- Lernens“ (Dekonditionierung) ist, also des Abtrainierens schädlicher Denk- und Verhaltensweisen, die in der Regel auf Illusion beruhen. Die Vorbereitung und das Gehen dieses WEGES (Tao, Do) galt als ein Prozess der Meisterung des Ich durch  Reinigung, Läuterung und spirituelle Entwicklung. Erst durch diese Art der Vervollkommnung wurde man nach taoistischer Vorstellung zum „Wahren Menschen (Zhen Ren), oder gemäß buddhistischer Lehre zum „Weisen Menschen“ (Sheng Ren).

 

 

Gemäß den Hütern der Tradition und den traditionellen Vorstellungen entsprechend, galt  der gesamte Prozess von Lehre und Lernen als heilig, denn er leitete den „Kleinen Menschen“  zu einer weit aus höheren Ebene, oder Kreis des Menschseins. Hier kommt dem Lehrer in seiner  Rolle die entscheidende Bedeutung zu. Er besaß das, was der Schüler gerne hätte, nämlich tatsächliches Wissen und Fähigkeiten, und er war das, was der Schüler gerne wäre, ein verwirklichter, das heißt ein gereifter und entwickelter vollkommender Mensch.

 

 

Ein Meister der Architektur, Malerei, Musik, Dichtkunst, Tanz, Theaterkunst oder Heilkunst - also gleich welcher Kunst oder Wissenschaft - ist das lebendige Beispiel für die Brückenfunktion der Kunst. Der Kunst gemäß kommt der Anfänger zunächst aus dem Reich des schwachen, blinden, im Grunde wertlosen, ja sogar gefährlichen  Menschen. Durch das Absolvieren von Training, Prüfung, Erziehung, Unterweisung, Test usw. gelangt er allmählich in den Kreis des starken, wahren, edlen, weisen, ja heiligen Menschen.

 


 

Der „Anfänger“ verdient bei seiner Ausbildung nicht die Achtung des „echten Menschen“. Aus diesem Grund muss er die niedrigsten Arbeiten verrichten und wird von den älteren Schülern häufig drangsaliert, in jedem Fall nur geduldet, keinesfalls jedoch respektiert. Hat er im Verlauf seiner langjährigen Ausbildung Geduld, Mut, hohe moralische Werte und vorbildliche kämpferische Fähigkeiten bewiesen, dann gehört er irgendwann selbst zu den Älteren und prüft nun seinerseits den Charakter der neuen Schüler.

 

 

 

 

6. Sifu

 Lehrer-Vater

 

Nach der Betrachtung der traditionellen Rolle des Lehrers (Shi oder Si) und des Vaters (Fu) als bedeutende Kulturfunktion, können wir uns jetzt dem KungFu- Lehrer nähern, der beide  Rollen in sich vereint. Es gibt zwei Schriftvarianten des ausgesprochenen Wortes Shifu. Die erste bezieht sich auf den „Lehrer-Vater“ als Meister in der Kampfkunst, die zweite als Meister (wörtlich „Lehrer- Lehrer“) allgemein für eine Person, die Instruktionen (Unterricht) erteilt und zwar in Beruf, Handwerk oder Kunst. Diese Anredeform besteht auch im Dienstleistungsbereich (z.B. für Taxifahrer, Wachpersonal usw.) Auf einen Lehrer der Kampfkunst wird niemals der zweite Begriff angewandt. Stets  der „Lehrer- Vater“- Titel. Das Meister-Schriftzeichen der Kampfkünste ist auch in einem anderen Bereich der chinesischen Kultur weit verbreitet: Sowohl buddhistische als auch taoistische Mönche werden mit dem ehrenden Titel Sifu angesprochen.

 

 

Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die spirituelle Dimension des in der Kampfkunst verwendeten Begriffs "Sifu". Hier fließen viele Aspekte des Lehrens, der Erziehung, der Vermittlung geheimen Wissens, der Vorbereitung auf das Leben und eben auch die Ausübung von Autorität zusammen. Es darf nicht vergessen werden, dass der chinesische Vater-Begriff auf Autorität beruht: das  Schriftzeichen Fu ist die symbolische Darstellung zur Durchsetzung von Regeln mit Hilfe zweier Schlagstöcke, also mit Hilfe auch von Gewalt. Die Rolle des Lehrers in den chinesischen Kampfkünsten wird einerseits durch die alten Prinzipien der familiären Hierarchie bestimmt und andererseits durch die traditionelle Auffassung von der kultivierenden Funktion des Erlernens einer Kunst.

 

 

7. KungFu-Familie

 

Die vorher erwähnten Strukturen, Regeln und Pflichten aus der patriarchalischen Familie finden wir auch in der traditionellen KungFu- Familie. Hier wird den Namen der einzelnen Familienmitglieder das Wort „Lehrer“  Si vorangestellt:

Seine Frau nimmt die Rolle der Lehrer-Mutter ein. Ihr schöner Name ist Simu.

Der älteste, fortgeschrittenste männliche Schüler wird von seinen Mitschülern mit dem Namen Da Si Xiong angesprochen, das bedeutet „Ältester Bruder“.

Fortgeschrittene Schüler heißen Si Xiong.

Fortgeschritten weibliche Schüler heißen Si Jie „Ältere Schwester“.

Die Fortgeschrittenen sprechen die neuen Schüler entweder mit Si Di „Jüngerer Bruder oder Si Mei „Jüngere Schwester“ an.

In dieser Hierarchie der KungFu-Schule zählt nicht die physische Geburt, sondern die Geburt im Kreise der KungFu-Familie, d.h. der Zeitpunkt des Eintritts in die Schule.

 

 

Traditionell hatte die Aufnahme eines Anwärters in den Kreis der wirklichen Schüler einen sehr formellen Rahmen. Es wurde ein Ritus mit dem Namen Baisi (etwa „Grüßen des Lehrers“) durchgeführt. Erst danach konnte ein Anwärter, Kandidat, der bisher lediglich ein informeller Schüler des Meisters war, sich zur eigentlichen KungFu-Familie des Meisters zählen, erst ab diesem Punkt war der Meister tatsächlich „sein“ Sifu.

Eine zentrale Geste des Baisi war das Niederwerfen (im Westen häufig als „Kotau“ bezeichnet) vor dem Meister, bei der man in kniender Position mit der Stirn dreimal den Boden berührte, um die totale Unterwerfung unter den Willen des Meisters auszudrücken. Das Baisi-Ritual war der äußere, symbolhafte Vollzug des „Durchschreitens der Pforte“ (Ru Men). Dieser Begriff besagt, dass der Anwärter die Pforte, also das Tor zum Haus des Meisters, durchschritten hat und nun ein vollwertiges Mitglied der Kampfkunst-Familie darstellt.

  

8.  Sifu

Wissen und Vermittlung

 

Zwischen der Kunst des Kampfes und anderen Künsten besteht ein gravierender Unterschied:

Beinhaltet das Studium der Architektur, Malerei usw. zwar eindeutig den Prozess der Persönlichkeitskultivierung, so verleiht das Beherrschen dieser Künste jedoch nicht die Macht über Leben und Tod, wie es die Kampfkunst vermag. 

Die Fähigkeit, einen anderen Menschen „mit bloßen Händen“ zu töten ist eine Waffe. Sie darf nur solchen Menschen gelehrt werden, die damit angemessen umzugehen verstehen: Die sich beherrschen können. Je egoistischer ein Mensch sich grundsätzlich verhält, desto gefährlicher wird er, wenn man ihn mit der Waffe der Kampfkunst ausrüstet.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass eine Kunst, die den Übenden Macht über Leben und Tod verleiht, besondere Maßstäbe an Integrität und Authentizität entwickeln muss, wenn sie nicht Werkzeug destruktiver Absichten sein will. Diese Richtlinien sind im Wude verankert, dem klassischen Tugendkatalog, der festgelegt, welche Ansprüche ein Krieger erfüllen muss.

 

 

9. Wude

Die Moral des Kriegers

 

In der überlieferten Form des Wude („Ethik des Kampfes“) gibt es zwei Kategorien:

die Tugenden des Handelns 

und

die Tugenden des Geistes.

Ein wahrer Schüler der Kampfkunst muss sich in beiden Bereichen auszeichnen, nur dann wird ihn der Meister in die tiefsten Geheimnisse der Kunst einweisen.

Die Tugenden des Handelns:

  1. Demut
  2. Achtung
  3. Rechtschaffenheit
  4. Vertrauen
  5. Loyalität

Die Tugenden des Geistes:

  1. Wille
  2. Ausdauer
  3. Beharrlichkeit
  4. Geduld
  5. Mut

 

 

Dem Ren-Begriff, für Mensch und Menschlichkeit, wurden diese besonders erstrebenswerten Tugenden zu geordnet: 

  1. Zuverlässigkeit 
  2. Ehrlichkeit
  3. Direktheit
  4. Aufrichtigkei

 

 

Wir gehen jetzt nicht auf die weiteren Inhalte des Wude ein, sondern stellen uns die Frage, wie der Meister sicherstellen kann, dass seine Schüler diese Ansprüche erfüllen. Es ist klar, dass sich diese Qualitäten nicht allein und nicht von heute auf morgen entwickeln werden, sondern dass derartige Attribute bei einem Menschen sich nur einstellen und demonstriert werden können,  wenn er sich speziellen Tests unterwirft. Etwas anderes anzunehmen ist Selbsttäuschung. Erst wenn man begreift, dass traditionelle Kampfkunst sowohl Übung, als auch Test des Charakters darstellt, kann man feststellen, worauf die  besondere Stellung des Lehrers gründet. Ein Meister braucht die Autorität, Schüler die ihn nahezu kritiklos verehren, denn sonst ist er nicht in der Lage, Übungen und Tests zu entwerfen, die seinen Schülern den Beweis für die obigen Tugenden abverlangen.

 

 

10. Westlicher Weg des Kriegers

 

Deutlich wurde: Lehrer und Schüler stehen nicht auf einer Stufe. Der Schüler, als Anfänger, ist nur ein schwacher Schatten des „wahren Menschen“. Sein Meister das verwirklichte Gegenstück. Der Meister hat nicht nur den Bereich  des physisch-technischen Trainings bewältigt, sondern darüber hinaus ein hohes Niveau geistig-moralischer Vervollkommnung erreicht. Entscheidend ist hier, dass der Respekt nicht von den aktuellen Fähigkeiten des Lehrers abhängig gemacht wird, denn auch gerade der alte, körperlich nicht mehr zur Ausübung der Kunst fähige Meister wird hoch geehrt. Es geht um mehr bei diesem Respekt.

Erstens: Der Meister ist der Vermittler einer Kunst, Lehre und Tradition. Nur über ihn haben wir Zugang zu dieser Kunst. Seine Rolle kann er aber nur verwirklichen, wenn sich der Meister der Loyalität und des Respekts seiner Schüler versichert.

Zweitens: Es geht grundsätzlich um den Respekt und um die Anerkennung der Tatsache, dass der Lehrer die lebendige und verwirklichte Lehre in seinem menschlichen Leben darstellt. Der Schüler besitzt zunächst nur das Potential für eine solche Entwicklung, befindet sich aber noch in einem primitiven Anfangsstadium.

Wie in der Einleitung angedeutet wurde, herrscht in unserer Gesellschaft ein anderes Denken und das erschwert es, diese beiden Bedingungen vorurteilsfrei zu betrachten.

Wir denken uns selbst in der westlichen Welt für sehr "modern", wenn wir in der Regel alle Traditionen ungeprüft ablehnen und diese als überholt ansehen. So können wir nicht einsehen, dass es für einen bestimmten Lernprozess obligatorisch sein kann, sich dem Willen eines Lehrers unterzuordnen.

Die heutige Auffassung und Sicht erlaubt es lediglich, den Meister als eine Person an zu sehen, der als Spezialist in einem bestimmten Fachgebiet eine höhere Kompetenz hat. Der Meister, ist dann nicht „(stärker) verwirklicht oder vervollkommnet“ als sein Schüler / Student.

 

 

11. Resümee

 

Ein Mensch,  der die elementare Notwendigkeit von der wahren Selbst-Kultivierung des Menschen nicht anerkennt, wird auch keinen Grund finden,  seinen Kopf vor dem Kampfkunst-Meister zu beugen, es sei denn aus taktischen Gründen. Es gibt nur sehr wenige spirituelle Kampfkunst- Meister/Lehrer. Viele bleiben auf der Stufe des Trainers, Technikers, oder Gurus, als Fertigprodukt stehen.

 

 

Buddha gab seinen Schülern diesen Hinweis:

"Alles forschend zu überprüfen und nicht nur blind anzunehmen und nachzuahmen. Denjenigen aber, die den Kopf nicht schnell genug beugen können, sei geraten, sich den Lehrer und seine Lehre genau anzuschauen, um nicht eines Tages festzustellen, dass sie einem Ideal, einer Illusion hinterhergelaufen sind, dem nichts in der Realität entspricht".

 

Ein Guru

ist ein Fertigprodukt.

Ein wahrer Meister lernt 

bis zu seinem letzten Atemzug 

und lernt auch von seinen Schülern. 

SALVADOR SALPIETRO

 

 

Quelle: T. Schlaméus "Der Sifu", überarbeitet von G.K.J. Nickel